Als Lambrechter nach Mittelpolen auswandern wollten

"Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau" - Die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (ISBN 978-3-00-026821-2) In den Jahren 1816/17 erlebte die Pfalz eine Massenauswanderung, die nicht nach Nordame­rika oder in das Schwarzmeergebiet führte, sondern nach Mittelpolen in die Gegend von Lodz und von Warschau. Auslöser war eine Hungerkrise sowie die Werbetätigkeit von Agenten, die Siedlern außer der Zuteilung von Land großzügige Unterstützungen wie Reisegelder, Hil­fen beim Wohnungsbau, Ausstattung mit Geräten, Vieh usw. durch die Behörden vorgaukel­ten. Das Unternehmen endete für die meisten der Verführten mit einer Katastrophe. Sie kehr­ten als Bettler zurück.

Auch in Lambrecht gab es Auswanderungswillige, die in Mittelpolen ein besseres Leben als in der Heimat zu finden hofften. Einer von ihnen war der Schuhmacher Heinrich Knochel. Er übernahm es, für sich und die anderen auf einer Erkundungsreise die Ansiedlungsbedingungen in Mittelpolen festzustellen. Am 11. Juli 1816 brach er auf und kehrte schon am 5. September 1816 wieder zurück. Nach seiner Ankunft in Lambrecht lud ihn Bürgermeister Merkel sogleich zu einer Befragung vor. Dabei schilderte Knochel das Schicksal derer, die bereits nach Polen ausgewandert waren, in den „schwärzesten Farben". Mehrere Familien aus Esthal, Elmstein und Lambrecht, die „heimlich", ohne eine Genehmigung der Behörden, in Richtung Warschau gezogen waren, seien bereits zurückgekehrt bzw. würden bald nachfolgen.

Von der Befragung über die Reise nach Warschau fertigte der Bürgermeister ein Protokoll an. Danach habe Knochel unterwegs nur „in Ställen" übernachten können. Auch seien die Le­bensmittel weit teurer als hier gewesen. In Polen sehe man „nichts als Armuth und Mangel". Deutsche Einwanderer aus der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende hätten von der damaligen preußischen Regierung „kräftig" Unterstützung erhalten. Jetzt dagegen - Mittelpo­len gehörte inzwischen zum Zarenreich - seien sie „missvergnügt und wünschten sich wieder in die Gegend des Rheins zurück". Die Behörden in Warschau böten den Einwanderern nur „oede Ländereien" an, „Kopfgeld oder Vorschuß für die ersten Einrichtungen" gebe es nicht. Nach diesen frustrierenden Erlebnissen sei er „über Hals und Kopf nach Hause aufgebro­chen. Auf dem Heimweg habe er es sich „zur Gewissenssache" gemacht, ihm entgegenkom­mende Auswanderer zu warnen und zur Umkehr aufzufordern, was auch viele der „Verblen­deten" getan hätten. Das Protokoll endet mit der Beteuerung Knochels: „Jetzt bin ich wieder zurück und kann allen Menschen versichern, dass man in unserem Lande weit glücklicher lebt als in Polen."

Knochel hatte bereits die Rückkehr von Familien aus Esthal angekündigt. Zwei von ihnen, die Familien Münich und Schlachter, wurden am 4. September 1816 in Mundenheim aufgegriffen und dem dortigen Bürgermeister vorgeführt. Sie erklärten, dass sie in Frankfurt bei der russi­schen Gesandtschaft vergeblich um Reisegeld nachgefragt hätten. Sie seien dann noch bis Hanau gezogen, aber aus Warschau zurückkehrende Familien hätten sie zur Umkehr bewogen. Es gebe „weder Obdach noch Lebensmittel" auf dem Weg dorthin, und auf der Straße nach Warschau „wimmele" es „von Kranken und Ausgehungerten". „Sehr viele" seien bereits gestorben. Noch am selben Tag abends traf die Familie Küntzler aus Esthal mit ihren fünf Kindern in Mundenheim ein. Sie war bis Leipzig gekommen. Der Familienvater bestätigte die Aussagen der Mitbürger nicht nur, sondern fügte noch hinzu, dass „das Elend auf der von ihm gemachten Straße weit größer" sei, als von den anderen Rückkehrern angegeben.

Mitgebracht hatte Heinrich Knochel einen Erlass der für die Einwanderung zuständigen Be­hörde in Warschau. Danach würden Siedlern „nur wüste und unbesaete Grundstücke" zuge­wiesen. Andere Unterstützungen gebe es nicht. Die Kolonisten müssten das zur Einrichtung einer bäuerlichen Wirtschaft nötige Barvermögen mitbringen. Der Erlass der Warschauer Behörde verdeutlicht, dass all die Tagelöhner, wenig begüterten Handwerker und Kleinbauern, die sich in Polen eine bessere Existenz als in der Heimat auf­bauen wollten, scheitern mussten. Ihnen blieb nur die Rückkehr, sofern sie dazu körperlich und seelisch überhaupt noch in der Lage waren.


Das Protokoll des Bürgermeisters von Lambrecht über die Befragung von Heinrich Knochel sowie der Erlass aus Warschau wurden zur Abschreckung Auswanderungswilliger in den „Kreis-Anzeigern" veröffentlicht. Angefügt wurde noch eine ergänzende Bemerkung von Dr. Siebenpfeiffer von der Kreisdirektion, in der es heißt: „Dieses sind also die gerühmten Bedin­gungen, die glänzenden Erwartungen, deren sich die Auswanderungslustigen zu erfreuen ha­ben! ... Wer Ohren hat und es gut mit sich selbst meint, der höre, höre auf die wohlgemeinten Warnungen."


Trotz dieser Warnungen zogen noch bis in das Jahr 1817 hinein Tagelöhner, Kleinbauern und Handwerker aus der Pfalz in großer Zahl in Richtung Mittelpolen, in der - meist vergeblichen - Hoffnung, dort eine bessere Existenz als in der Heimat zu finden.



"Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau" - Die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (ISBN 978-3-00-026821-2) Über die Gründe für die bisher wenig bekannte pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen, deren Verlauf sowie über Auswandererschicksale informiert ein Buch mit dem Titel „'Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau'. Die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (ISBN 978-3-00-026821-2). Es ist mit Landkarten, Bildern und einer Namensliste versehen und kann zum Preis von 22,50 Euro beim Autor Norbert Gottlieb, Auf der Mauer 3, 76831 Ilbesheim, Tel. 06341/30403 er­worben werden.

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