„Der eine kommt ins Pfefferland, der andere in die Krimm!" - Die Gründung der Kolonie Speyer in der Südukraine 1809/10 - Auswanderung aus der Südpfalz nach Rußland.

„Der eine kommt ins Pfefferland, der andere in die Krimm!“ – Die Gründung der Kolonie Speyer in der Südukraine 1809/10 – Auswanderung aus der Südpfalz nach Rußland. Das russische Auswanderungsfieber grassierte in der Südpfalz im Jahr 1809 wie eine Epidemie! Für einen heutigen Südpfälzer ist kaum nachvollziehbar, dass jemand Haus, Dorf und Heimat für immer verlässt und auf eine bessere Zukunft vertraut, ohne zu wissen, was ihn am fremden Ort erwartet. Und dann noch nach Russland!? Russland!?



Im Frühjahr jenes Jahres meldeten die Lokalbeamten eine ungewöhnlich große Zahl von An- und Verkäufen von Mobilien und Immobilien. Bald danach häuften sich die Meldungen über heimliche Auswanderungen, die verboten waren. Dem Bürgermeister von Offenbach bei Landau, der einigen ausreisewilligen Bürgern seiner Gemeinde die in ihrem Besitz befindlichen russischen Reisepässe abnehmen wollte, wurde nicht nur Prügel angedroht, sondern auch, dass man ihm noch das Haus über dem Kopf anzünden werde.

Dominik Geiger scheint sich nicht heimlich oder mit dem Täuschungsmanöver einer Wallfahrt aus Kuhardt verdrückt zu haben. Denn in einer französischsprachigen Auswanderungsliste für den Kanton Germersheim ist er aufgeführt: „Geiger, Dominique, 23 Jahre, Tagelöhner, mit seiner Frau". Er ist der jüngste Verheiratete unter den insgesamt 34 Personen aus Kuhardt. Aus der ganzen Vorderpfalz kommen Auswanderer, die nach Russland wollen: Bellheim (13 Personen), Germersheim (3), Hördt (42), Knittelsheim (47), Lingenfeld (37), Neupotz (4), Niederlustadt (15), Oberlustadt (19), Ottersheim (102), Schwegenheim (1), Sondernheim (17), Weingarten (7), Zeiskam (21).

„Der eine kommt ins Pfefferland, der andere in die Krimm!“ – Die Gründung der Kolonie Speyer in der Südukraine 1809/10 – Auswanderung aus der Südpfalz nach Rußland. In den ersten Maitagen des Jahres 1809 muss in den Rheindörfern Neupotz, Leimersheim und Kuhardt heller Aufruhr geherrscht haben. Dutzende von Bauernwagen wurden voll gepackt für den großen Treck in das ferne Russland. 105 Leimersheimer bestiegen am 9. Mai die mit Planen überzogenen Leiterwagen. Sechs Säuglinge wurden zu ihren Müttern hoch gereicht. Frischvermählte waren auch darunter: der 21jährige Johannes Schardt heiratete noch schnell tags zuvor die erst 13jährige Anna Elisabeth Hammer. Somit konnten sie Landbesitzer von 60 Deßjatinen Land in der russischen Steppe werden.

Tags darauf, am 10. Mai, meldete der Leimersheimer Bürgermeister Hans-Michael Kuhn unter Nennung der Namen, dass ein Dutzend Familien heimlich das Dorf in Richtung Osten verlassen habe, „obwohl vor Tagen öffentlich mit der Ortsschelle bekanntgegeben worden war, daß es verboten ist, ohne Erlaubnis des Präfekten auszuwandern."

Gewöhnlich wurde mit einem Wagen eine Familie von vier bis fünf Personen befördert. Aber es gab auch Familien, die mit acht oder neun Kindern auf einem Wagen saßen. Die Tatsache, dass mit den Wagen die Familien mit samt ihrem Reisegepäck, dem Proviant und der notwendigen Ausrüstung auf einer Strecke von rund 3 000 Kilometer zu transportieren war, macht klar, dass es große und schwere Wagen waren, wie sie einst von den Dorfhandwerkern gebaut wurden. Manchmal organisierten sich 15 bis 20 Familien zu einem gemeinsamen Wagenzug. Sie reisten auf dem Landweg über Böhmen, Mähren, Schlesien bis zur russischen Grenzstadt Radziwillów. Wegen schlechter Straßen dauerte damals die Überlandreise fast drei Monate.

Die Kolonisten kamen im Sommer 1809 in drei Gruppen von der Grenzstadt Radziwillów nach Odessa. Die erste Gruppe, die für das Beresaner Tal bestimmt war, fuhr rechts weiter nach Süden und die anderen links zu einem Nebenfluß des Bug, wo sie dann die Kolonien Rastatt und München gründeten. 86 km nordöstlich von Odessa und etwa 46 km nordwestlich der Stadt Nikolajew, mitten in der südrussischen Steppe, machte der Treck plötzlich Halt.

Nun kam es zu einer uns vertrauten Szene, wie sie in zahlreichen Edelwestern vorkommt, die die Besiedlung der amerikanischen Steppe durch europäische Siedler zeigt. Auch dem frisch vermählten 22jährigen Dominik Geiger und seiner Ehefrau Elisabeth wird wohl das damalige Geschehen unauslöschlich in ihrem Gedächtnis geblieben sein: An der Stelle der noch zu gründenden Kolonie Speyer, an der die spätere Hauptstraße angelegt werden sollte, südlich der Kirche, wo dann die Häuser von Kasper Wanner und Mathias Dietrich stehen werden, sagte der Oberschulze Franz Brittner zu den Auswanderern:

„Das ist eure neue Heimat, ladet eure Sachen und Gepäck ab!" Die Kolonisten schauten erstaunt und empört herum und fragten: „Wie kann diese öde Wildnis unsere neue Heimat werden?" Die Schwarzerde erwies sich als eine schwer zu knackende Nuss, sie barg zunächst ihren Reichtum in sich und gab ihn nicht frei, der Boden war viel härter, als sie sich vorgestellt hatten. Und wie war das Pflügen so leicht in dem sandigen Boden ihrer alten Heimat am Ufer des Rheins!

Jede Familie bekam Hofplätze zugeteilt. Es wurden Erdlöcher ausgehoben und mit Schilfrohr und Grasnarben bedeckt. Diese Erdhäuser dienten im ersten Winter als Wohnungen, die sich als sehr kalt und feucht erwiesen. Man musste mit getrocknetem Kuhmist heizen, auf 30 Meilen im Umkreis wuchs kein Holz. Von den Leiden und Mühsalen der Auswanderer nach Südrussland wusste man in der Pfalz noch nach mehreren Jahrzehnten zu erzählen. Eine volkstümliche Redewendung in der Südpfalz geht darauf zurück: „Der eine kommt ins Pfefferland, der andere in die Krimm!" Mit dieser Drohung wurden in der Gegend von Landau streitende Kinder zur Ruhe gebracht.

Die Kolonie Speyer wurde in den Jahren 1809/1810 gegründet. Speyer bekam seinen Namen auf Vorschlag des Kolonisten Johannes Schanz, der aus Lingenfeld stammte. Es sollte eine Erinnerung und Reminiszenz sein an die Stadt Speyer, der alten Bischofsstadt, der bestimmenden Metropole am Rhein. Am 1. Januar 1811 lebten in der Kolonie Speyer 102 Familien: 212 Männer und 236 Frauen, zusammen 448 Seelen überwiegend katholischer Konfession. Von den 102 Gründungsfamilien stammten 64 aus der Südpfalz, 27 aus dem Elsaß und 11 aus Baden. Jede Familie besaß als Grundlage für ihre bäuerliche Existenz ein bis zwei Pferde, eine Kuh, einen Wagen und die notwendigen landwirtschaftlichen Geräte.

„Der eine kommt ins Pfefferland, der andere in die Krimm!“ – Die Gründung der Kolonie Speyer in der Südukraine 1809/10 – Auswanderung aus der Südpfalz nach Rußland. Das zaristische Kolonisationsunternehmen in der südrussischen Steppe war nicht von Anfang an erfolgreich, wie man einigen Berichten entnehmen kann. Es galt auch hier das volkstümliche Sprichwort: Der ersten Generation der Tod, der zweiten Generation die Not, der dritten Generation das Brot! Obwohl Südrussland zu den fruchtbarsten Gegenden Europas zählte. Die Schwarzerde enthielt viel Stickstoff, so dass man eine hohe Ernte ohne die Anwendung von Düngemittel erzielte. Die Bauern pflanzten auf diesem Boden Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Mais, Sonnenblumen, Kartoffeln, Wein und Melonen mit großem Erfolg an. Sie wandten das ihnen vertraute Dreifeldersystem an, bei dem Winterweizen, Sommerkulturen und Hackfrüchte mit Schwarz- oder Grünbrache abwechselten. Ihr Fleiß, ihr Können und ihr Wissen ließ einen paradiesischen Garten Eden in der südrussischen Steppe entstehen. Hatten sie in der Südpfalz etwas vom Paradies geahnt, so hat es sich ihnen in der Südukraine offenbart. Die Landwirtschaft entwickelte sich auf breiter Basis und der Wohlstand der Speyerer Bauern nahm alljährlich immer mehr zu. Handwerk, Handel und Gewerbe florierten.

Waren es in Leimersheim aufgrund der Realteilung nur 2-3 ha Land, das ein Bauer im Durchschnitt sein Eigen nennen konnte, so war er in Südrussland in jeder Hinsicht ein Großbauer. Es gab sehr reiche Bauern in Speyer, die 150-500 ha gekauftes Land bewirtschafteten. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die deutschen Kolonien bis 1914 zu den reichsten und am besten organisierten Siedlungen nicht nur in der Ukraine sondern in ganz Russland überhaupt zählten. Man hätte die pfälzisch-elsässisch-badischen Kolonistendörfer in Südrussland für potemkinsche Dörfer halten können, aber die schriftlichen und mündlichen Quellen liefern glaubwürdige Berichte.

Die Namen ehemaliger deutscher SiedlungenDie Namen der anderen ehemaligen deutschen Siedlungen im sogenannten Kutschurganer und im Beresaner Gebiet erinnern ebenfalls an die alte Heimat der Urkolonisten aus Württemberg, Baden, Elsaß-Lothringen und der Pfalz. Sie trugen Namen wie Heidelberg, Worms, Mannheim, Rastatt, Karlsruhe, Baden, Durlach, Sulz, Selz, Straßburg, Elsaß, Neuburg, Rohrbach, Kandel, Landau und eben Speyer. Mit den Ansiedlern kamen auch unsere Sprache, Sitten und Gebräuche in jene Gegenden.

Nur ein Beispiel, ein scheinbar unbedeutender Sachverhalt, sei stellvertretend angeführt: Den Bewohnern von Rohrbach in der Südpfalz wie denen von Rohrbach im Beresaner Gebiet sagt man nach, sie würden stets ein Messer im Sack mit sich tragen, was ihnen jeweils den Necknamen „Stecher" eingebracht hat. Und dieses Image von Rohrbach muss demnach schon vor 1800, also vor der Koloniegründung (1808/1810), allgemein bekannt gewesen, und dann mit in die russische Steppe genommen und auf das neue Rohrbach übertragen worden sein.

In Pater Konrad Kellers „Revisionsliste der Kolonie Speyer 1839-1840", die 30 Jahre nach der Koloniegründung angefertigt wurde, taucht unser Auswanderer aus Kuhardt als Familienvater wieder auf: "Dominik Geiger 52 Jahre alt und hat mit Elisabeth geb. Schaf, 48 Jahre alt, aus Leimersheim, einen 13jährigen Sohn mit Namen Anton."



Helmut Seebach. Zur Geschichte der Südpfalz. Band 3. NachtragsbandDer Autor: Helmut Seebach ist Journalist, Autor und Verleger (Bachstelz-Verlag), 1954 geboren, stammt aus Queichhambach, wohnhaft in Mainz.

Lesezeichen: Helmut Seebach. Zur Geschichte der Südpfalz. Band 3. Nachtragsband.

ISBN  978- 3-924115-31-9. (420 Seiten, über 80 Abb. z.T. farbig). Preis: € 42,00.

Zu bestellen beim Bachstelz-Verlag, Waldstr. 6, 55124 Mainz, oder im Buchhandel.

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