Die Auswanderung von sieben Ilbesheimer Familien nach Mittelpolen in den Jahren 1816/17

Wenn von der pfälzischen Auswanderung die Rede ist, denkt man in der Regel an die Auswanderung nach Nordamerika im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Wenig bekannt ist, dass es auch eine pfälzische Auswanderungsbewegung nach Mittelpolen gab, die sich allerdings hauptsächlich auf die beiden Jahre 1816/17 beschränkte.

Nach dem reformierten Kirchenbuch der Gemeinde Ilbesheim/Pfarrei Leinsweiler zog im Jahr 1816 Johann Thomas Dörner (Doerner) mit seiner Ehefrau und zwei Kindern im Alter von 10 und 14 Jahren „nach Polen ohnweit Warschau". Die Tochter Eva, die bereits verheiratet war, blieb zunächst in Ilbesheim zurück. Der bereits 56 Jahre alte Johann Thomas Dörner übte das Schuhmacherhandwerk aus.

Von seinem Gewerbe und der kleinen Landwirtschaft allein konnte er offenbar seine Familie nicht ernähren, weshalb er sich noch als Tagelöhner sowie als Feld- und Waldschütz betätigte. Die Familie war bisher von Schicksalsschlägen nicht verschont geblieben; von ihren neun Kindern lebten zum Zeitpunkt der Auswanderung nur noch die drei oben genannten. Johann Thomas Dörner muss ein unsteter und risikobereiter Mann gewesen sein, denn wer verlässt schon in diesem Alter die vertraute Umgebung, um in einer vollkommen unbekannten Fremde nochmals ein neues Leben anzufangen?

Als Thomas Dörner 1816 mit seiner Familie nach Mittelpolen zog, war nicht Nordamerika, sondern die Gegend bei Lodz und bei Warschau das Hauptziel pfälzischer Auswanderer. Die Ursache für diese Auswanderungsbewegung war eine Hungerkrise, hervorgerufen durch mehrere Missernten, besonders im Jahr 1816, das in die Geschichte auch als „Jahr ohne Sonne" einging. Nach Schätzungen geriet damals etwa ein Viertel der pfälzischen Bevölkerung, vor allem Tagelöhner, Kleinbauern und Handwerker mit ihren Familien, in Existenznot. Viele von ihnen entschlossen sich zur Auswanderung nach Mittelpolen, weil sie glaubten, „in hiesiger Gegend" Frau und Kinder nicht mehr ernähren zu können. Warum sie hofften, gerade in Mittelpolen eine „bessere Existenz" zu finden, hatte folgende Gründe: Bei den so genannten polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795, bei denen die Großmächte Österreich, Preußen und Russland das Königreich Polen untereinander aufgeteilt hatten, konnte Preußen u. a. Mittelpolen erwerben und als Provinz Südpreußen dem eigenen Staatsverband eingliedern. Da das Land teils dünn besiedelt war und über große Wald- und Ödlandflächen verfügte, begann die preußische Regierung zur Hebung der Bodenkultur und der Wirtschaftskraft, Siedler aus dem übervölkerten Südwesten Deutschlands anzuwerben. Sie versprach Land und Unterstützungen wie Reisekosten, Hilfen beim Wohnungsbau, Ausstattung mit Wirtschaftsgeräten, Vieh usw. Dem Lockruf folgten zahlreiche Südwestdeutsche, darunter auch einige pfälzische Familien. Es entstanden mehrere deutsche Siedlungen, deren Namen die Herkunft der Kolonisten verraten, zum Beispiel Neu-Sulzfeld, Grömbach, Königsbach, Alt- und Neu-Ilvesheim, Schwenningen usw. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 gehörte Mittelpolen zum Zarenreich. Die russisch-polnische Regierung war auch an Zuwanderern interessiert, denen sie Land zusagte, allerdings ohne die anderen Vergünstigungen wie in preußischer Zeit. Werber, die vermutlich in ihrem Auftrag in der Pfalz auftraten, verschwiegen dies jedoch, so dass zahlreiche von der Hungerkrise betroffene Familien sich wie die Familie Dörner zur Auswanderung nach „Russisch-Polen" entschlossen.

Wo in Mittelpolen die Familie Dörner sich ansiedelte und unter welchen Lebensbedingungen, ließ sich nicht feststellen. Aber es muss brieflichen Kontakt nach Ilbesheim gegeben haben, weil ein Jahr später die Tochter Eva mit ihrem Ehemann Johannes Sauter und zwei Kindern im Alter von einem und vier Jahren den Eltern nachfolgte. Weitere Ilbesheimer Familien waren ebenfalls an einer Auswanderung nach Mittelpolen interessiert. Sie wollten jedoch vorher Näheres über die Zustände im Einwanderungsgebiet in Erfahrung bringen. Deshalb schickten sie den Ilbesheimer Johannes Geiß, wohl selbst ein Auswanderungswilliger, auf eine Erkundungstour nach Polen.

Johannes Geiß verließ am 4. Februar 1817 Ilbesheim. In Warschau erhielt er von den Behörden für jeden seiner Auftraggeber in Ilbesheim ein Zeugnis, in dem diesem „der Besitz von ödem Land ... vorläufig versprochen" wurde. Ansonsten seien keine Unterstützungsleistungen durch den Staat zu erwarten. Lediglich die Bebauung des zugewiesenen Ackerlandes sollte für sechs Jahre von Abgaben frei sein.

Johannes Geiß begab sich sodann in verschiedene Dörfer. Dort traf er Einwandererfamilien, die für Miete in „elenden Baraquen" hausten. Ihnen war ja nur „ödes Land", aber keine Behausung zugesagt worden. „Die meisten Familien" befänden „sich in einer sehr kummervollen Lage". Die Errichtung von Behausungen in den schon bewohnten Dörfern würde große Schwierigkeiten bereiten, und die Anschaffung von landwirtschaftlichen Geräten und Vieh sei sehr teuer. Auch ließe sich das noch unkultivierte Land nicht schon im ersten Jahr „urbar machen". Die Ärmeren unter den Einwanderern, die ihre Vorräte und Geldmittel bereits aufgebraucht hätten, müssten betteln gehen. Die Möglichkeit, bei einem Dienstherrn Arbeit zu finden, um dadurch Geld zu verdienen, bestünde nicht. Die Einheimischen, die als Dienstboten bei ihren Edelleuten arbeiteten, erhielten dafür „nur die hinlängliche Nahrung ohne Überfluß".

Johannes Geiß, der bereits um den 20. April 1817 von seiner Erkundungsreise zurückkehrte, wurde gleich nach seiner Ankunft vor den Oberbürgermeister Schattenmann von Landau geladen und befragt. Am Ende des Protokolls, das von diesem Verhör angefertigt wurde, heißt es: „Alle Eingewanderten, die ich angetroffen habe, bereuen nun ihre unüberlegt begangene Thorheit. Ihrem eigenen Schicksale überlassen, irren dieselben in diesen fremden Gegenden herum, trostlos, ohne Freunde noch Verwandte, die ihnen die Hand bieten, häuft sich das Elend über ihnen immer mehr, und sie sehen mit dem traurigen Bewußtseyn, daß sie sich alle diese Beschwerlichkeiten durch ihr eigenes Verschulden zugezogen haben, ihrem nahen Verderben verzweifelnd entgegen. Alle wünschen wieder in ihr Vaterland zurückzukehren; allein, ohne Vermögen und nunmehr von ihren Landsleuten verachtet, regt sich eine gewisse Schamhaftigkeit bei ihnen", die sie vor „einer Rückreise schauderhaft zurückbeben" lasse.

Das Protokoll der Vernehmung von Johannes Geiß wurde als „warnendes Beispiel für noch unbelehrbare Auswanderungslustige" am 8. Mai 1817 im „Landauer Wochenblatt" abgedruckt. Die Warnung kam indessen zu spät. „Sogleich" nach der Eheschließung am 20. Februar 1817 - etliche Wochen vor der Rückkehr von Johannes Geiß - zog Johann Adam Setzer mit seiner Ehefrau Anna Maria geborene Volgard (Volkhard) und den Schwiegereltern sowie deren beide Kinder im Alter von 10 und 12 Jahren „nach Polen in die Gegend von Warschau". Mit ihnen oder später, vielleicht sogar trotz der Warnungen von Johannes Geiß, der jedenfalls in Ilbesheim blieb, wanderten noch drei weitere Familien aus dem Dorf nach Mittelpolen aus, und zwar Johann Peter Hellmann mit Ehefrau und sieben Kindern im Alter zwischen zwei und achtzehn Jahren, Peter Laux mit Ehefrau und fünf Kindern im Alter zwischen einem und vierzehn Jahren sowie Konrad Schwarz (Schwartz) mit Ehefrau und vier Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren.

Insgesamt zogen somit 36 Personen aus Ilbesheim nach „Russisch-Polen". Keine der ausgewanderten Familien kehrte nach Ilbesheim zurück, aber nur von Konrad Schwarz wissen wir, dass er sich in Neu-Sulzfeld/Nowosolna (westlich von Lodz) niederließ. Über das Schicksal der anderen konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.

Mehr als 70 Jahre nach seiner Auswanderung sollten die Ilbesheimer noch einmal etwas von Konrad Schwarz hören. Angebliche Nachfahren von ihm waren angereist, um eine „Millionen-Erbschaft" von ihrem Vorfahren anzutreten. Eine solche hatte Konrad Schwarz aber bestimmt nicht hinterlassen oder zu erwarten, denn er stammte - wie auch die anderen Auswanderer aus dem Dorf - aus ärmlichen Verhältnissen.

Die dubiose Erbschaftsgeschichte beschäftigte am 27. Mai und am 3. Juni 1890 auch den „Landauer Anzeiger". Aus dem in ironischem Ton verfassten Artikel geht hervor, dass es nicht der erste Versuch war, sich in Ilbesheim ein Vermögen zu erschwindeln: Gegenwärtig taucht „dahier eine andere Millionen-Erbschaft auf, die von Russisch-Polen aus in Szene gesetzt wird. Schon seit Jahren kamen an das hiesige Bürgermeisteramt, besonders aus Lodz in Polen, Anfragen über den Stand eines angeblichen Vermögens von über 1 Million Mark, das unter der Verwaltung der Gemeinde sich befinden und welches ein gewisser Konrad Schwarz von hier, der zu Anfang dieses Jahrhunderts nach Polen verzogen ist, zurück gelassen haben soll. Natürlich ist die ganze Geschichte eitel Schwindel." Nach Berichten zweier Warschauer Zeitungen sei ein „Anwalt", der in Landau in der „Bazarstraße im Hause des Klaus Stift" wohne, mit der Eintreibung der Erbschaft betraut. Der „Anwalt" und eine ihn begleitende „Erbin" wurden schließlich verhaftet, aber wieder freigelassen. Die seltsame Adresse in der Stadt stellte sich als ein „Haus in der Stiftspassage" heraus.

Über die Gründe für die bisher wenig bekannte pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen, deren Verlauf sowie über Auswandererschicksale informiert eine Schrift mit dem Titel „'Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau'. Die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (ISBN 978-3-00-026821-2). Sie ist mit Landkarten, Bildern und einer Namensliste versehen und kann zum Preis von 22,50 Euro beim Autor Norbert Gottlieb, Auf der Mauer 3, 76831 Ilbesheim, Tel. 06341/30403 erworben werden.

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