Klimawandel als Hauptursache für die Auswanderung aus dem Alpenraum zwischen 1650 und 1700

Scherenschnitt, erstellt von Frau Helga Borngässer-Geyl nach einer Radierung von Daniel Chodowiecki (1726 - 1801). Er zeigt wie eine bäuerliche Einwanderergruppe aus dem Alpenraum ausgesehen haben könnte. Vorliegender Beitrag basiert auf der Veröffentlichung der beiden Verfasser (siehe unten) in der Zeitschrift „Pfälzisch-Rheinische Familienkunde“, 57. Jahrgang, 2008, Band XVI, Heft 7, Seite 409 – 414 und wurde nach der Auswertung neuer Literatur erheblich ergänzt. Zur Präzisierung des geografischen Bereiches wird festgestellt, dass unter dem Begriff „Alpenraum“ in Bezug auf diesen Beitrag vorrangig die höhergelegenen Regionen Österreichs und der Schweiz wie Tirol, Vorarlberg, Berner Oberland und Zentralschweiz und in abgeschwächter Form auch die angrenzenden Bergregionen gesehen werden.

Geschichtlicher Hintergrund

Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren weite Teile Südwestdeutschlands verwüstet und ganze Landstriche waren entvölkert. Besonders schlimm war die Pfalz betroffen, in der nach Heinz R. Wittner [1] „nach sorgfältiger Schätzung nicht mehr als 15 % der ursprünglichen Bevölkerungszahl lebten. …  In der Westpfalz war es die Regel, dass die Dörfer mitunter für Jahrzehnte ausgestorben waren.“ Die Wiederbesiedlung erfolgte nur sehr langsam und wurde immer wieder durch neue Kriege gestört. Dies waren der Holländische Krieg von 1672 bis 1679, der Pfälzische Erbfolgekrieg von 1688 bis 1697 und der Spanische Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714. In der Westpfalz wurde die Bevölkerungszahl von 1618 (Beginn des 30jährigen Krieges) erst Anfang des 18. Jahrhunderts wieder erreicht. Nina Schneider hat dies beispielhaft für die sickingische Herrschaft Landstuhl in ihrer Magisterarbeit [2] ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, dass 1700 noch nicht einmal die Hälfte der Einwohnerzahl von 1629 erreicht war. In die Pfalz, in das Saarland, in das Elsass, in das deutschsprachige Lothringen, in den Odenwald und in den Kraichgau kamen viele neue Bürger. Dabei war der Anteil der „Neuankommenden“ [3]  aus dem Alpenraum, besonders aus der Schweiz sowie aus Tirol und Vorarlberg, recht hoch.

Zu der Einwanderung aus dem Alpenraum gibt es inzwischen eine Reihe von Veröffentlichungen [1, 4, 5, 6, 7, 8, 25, 31, 32]. Die Zeit der Einwanderung liegt zwischen 1650 und 1750, wobei es Phasen stärkerer und geringerer Einwandererzahlen gibt. Dies hing erheblich von der politischen Situation in den Zielgebieten ab. So unterscheidet man bei den Schweizer Einwanderern eine erste Periode in den Jahrzehnten nach dem 30jährigen Krieg und eine zweite Periode nach dem Frieden von Ryswyk 1697. Für das Stanzertal in Tirol berichtet Anton Spiss [9], „dass die Wanderbewegungen erst ab 1691 ein größeres Ausmaß erreichten, zwischen 1711 und 1720 einem Höhepunkt zustrebten, und nach einem kurzfristigen Rückgang ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder zunahmen.“ Diese Entwicklung ist möglicherweise lokalspezifisch und nicht unbedingt auf andere Teile von Tirol zu übertragen.

Petto [8] zeigt in einer Grafik für die Einwanderung aus Tirol und Vorarlberg in die Saargegend eine ab 1675 stark ansteigende Zuwanderung mit einem ersten Extremwert um 1685, dann eine fallende Tendenz bis etwa 1705 und anschließend einen kräftigen Anstieg bis zum Maximum kurz vor 1720. Danach fällt die Zuwanderung bis etwa 1745 stark ab und läuft bis 1800 ganz aus.

Walck [25] zeigt in einer statistischen Auswertung für „Tiroler“, die ins Elsass und nach Lothringen kamen, nach einer geringen Einwanderung bis 1679 ein Jahrzehnt (1680 – 1689) hoher Einwandererzahlen (12 % aller erfassten Tiroler), von 1690 bis 1699 einen leichten Rückgang und dann von 1700 bis 1719 hohe und steigende Zahlen (14 – 15 %) gefolgt von einem deutlichen Rückgang auf unter 4 % zwischen 1750 und 1759.

Die Erfassung der Einwanderer aus dem Alpenraum in den südwestdeutschen Raum ist recht unvollständig und leidet stark darunter, dass vielerorts besonders vor 1700 die Herkunft nicht dokumentiert wurde (z. B. in [3]) oder die Urkunden (meist die Kirchenbücher) verloren gegangen sind. Dies gilt hauptsächlich für die Tiroler [10]. Abhängig von den Herrschaftsgebieten und der Religion (die Tiroler waren durchweg katholisch, die Schweizer waren überwiegend reformiert) gab es innerhalb der Zielgebiete unterschiedliche Entwicklungen. Die Verfasser gehen davon aus, dass die Einwanderung aus Tirol und Vorarlberg wesentlich höher war als es Petto in [8] für die Saargegend ermittelt hat.

Die Gründe für die Auswanderung aus dem Alpenraum werden in einigen Veröffentlichungen ausführlich erläutert. Die vorherrschende Meinung ist heute, dass Überbevölkerung und wirtschaftliche Gründe die wesentlichen Ursachen sind. Dabei wird die wirtschaftliche Not als Folge der Überbevölkerung gesehen.

Die Verfasser haben die Bevölkerungssituation im Bereich von Tirol und Vorarlberg sowie den Alpenregionen der Schweiz näher untersucht. Dabei wurde geprüft, ob es auch andere Gründe für die Auswanderung gab [10], als das allgemein angenommene starke Anwachsen der Bevölkerung.

Der Alpenraum wurde von den kriegerischen Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges weitgehend verschont. Allerdings breitete sich die große Pestepidemie [11], die in Süddeutschland 1634 - 1636 die Bevölkerung weiter dezimierte, auch in den Alpenraum aus. Alfons Kleiner  [12] berichtet für das Tannheimer Tal in Tirol, dass durch die Pest 1635 mindestens zwei Drittel der Einwohner starben. In [13] wird für Tirol insgesamt ein Bevölkerungsverlust durch die Pest von 10 % bis 40 % angegeben. Auch die Schweiz wurde in jener Zeit von der Pest heimgesucht. Geht man von einer normalen Bevölkerungsentwicklung aus (d. h. etwa Verdopplung in einem Jahrhundert), ist kaum damit zu rechnen, dass schon eine Generation später die  Bevölkerung so stark angewachsen ist, dass eine Auswanderungswelle ausgelöst wird. Der entscheidende Punkt ist offensichtlich, dass nicht die Bevölkerung auf ein zu hohes Maß anwuchs, sondern dass die klimatischen Verhältnisse sich insgesamt und besonders für die Landwirtschaft sehr zum Negativen änderten und sich damit die Ernährungsbasis dramatisch verschlechterte.

Erst nach 1700 erreichte die Bevölkerung im Alpenraum eine Größe, die, obwohl sich das Klima wieder verbesserte, nicht mehr ernährt werden konnte. Dazu findet sich z. B. in [14] für die Gemeinde Zams in der Herrschaft Landeck in Tirol ein Hinweis. Dort wurde 1708 beschlossen, keine fremde Personen mehr in die Gemeinde aufzunehmen. Begründet wurde dies mit „… sodaß die eigenen Gemeindekinder keine Herberg mehr bekommen konnten und die Feldfrüchte nicht mehr ausreichten.“

Klimawandel im Alpenraum

Hinweise von Roman Spiss [9] auf einen Klimawandel in jener Zeit in Tirol und von Nina Schneider [2] auf einen Klimawandel in der Schweiz, führen in die richtige Richtung. Seit dem Wechsel vom 13. in das 14. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerte eine allgemeine Klimaverschlechterung an, die unter dem Namen Kleine Eiszeit bekannt ist. Der Begriff „neuzeitliche Gletscherhochstandsperiode“ ist allerdings zutreffender, da es sich nicht um eine Eiszeit, sondern um eine Zeit weltweit auftretender Gletscherhochstände handelt [15]. Auslöser waren Phasen von sinkenden Temperaturen in allen Jahreszeiten. Besonderes Beispiel hierfür ist das Maunder-Minimum von 1645 bis 1715. Es bezeichnet eine Zeit geringer Solarstrahlung, die zu niedrigen Temperaturen und einem Anwachsen der Gletscher führte. Insbesondere in Tirol und dem heute italienischen Südtirol erreichten die Gletscher ihre neuzeitlichen Maxima um 1680. In den Ostalpen wird dieser Gletschervorstoß als Fernau-Stadium, nach der Typuslokalität Fernauferner im Stubaital, bezeichnet. Die Ko-Autorin hat in ihrer Forschungsarbeiten [15, 28] im Martelltal in Südtirol den Gletschervorstoß um 1680 nachgewiesen. Er ist dort in Form eines End- und Ufermoränenwalls als geomorphologischer Zeitzeuge im Gelände erhalten und dokumentiert den größten Vorstoß der neuzeitlichen Gletscherhochstandsperiode.

Nach Wikipedia (Stand Dezember 2011) "werden als Ursache für die Kleine Eiszeit eine geringere Aktivität der Sonne sowie ein verstärkter Vulkanismus angesehen. Der Zeitraum von 1645 bis 1715 markiert einen der Höhepunkte der Abkühlung innerhalb der Kleinen Eiszeit. Parallel dazu zeigte die Sonne ein Minimum an Sonnenflecken, das Maunderminimum, mit dem eine verringerte Strahlungsintensität einherging. Schon eine geringfügige Abschwächung kann auf der Erde zu signifikanten Abkühlungserscheinungen führen, die durch Messung des radioaktiven 14C-Anteils auch für die Vergangenheit nachweisbar sind.  ...   In die Kleine Eiszeit fiel eine Reihe starker Vulkanausbrüche, Plinianische Eruptionen, die Staub und Asche sowie Gase, unter anderem Schwefeldioxid (SO2), hoch in die Erdatmosphäre schleuderten."

Allgemein sind Gletschervorstöße in den Alpen stets mit einer Verkürzung der Vegetationsperiode und Reduzierung der Ernteerträge korrelierbar. Sie sind eindeutige Indikatoren für die agrarwirtschaftliche Situation in den Alpentälern. Aufgrund der Trägheit der Gletscher kann es jedoch vorkommen, dass die Jahre kurzer Vegetationsperioden aufgrund von langen Wintern und kühlen Sommern einige Jahre vor den Maximalständen der Gletschervorstöße datiert werden.

Mauelshagen verdeutlicht in der „Klimageschichte der Neuzeit 1500 – 1900“ [23] die Situation:
1939: F. Matthes prägt den Begriff "little ice age".
1955: „G. Utterström löst Debatte über wirtschaftliche Folgen des Klimawandels im 16./17. Jh. aus.“
„Die Dekade zwischen 1691 und 1700 gehört zu den drei kältesten des gesamten Zeitraums seit 1500.“
„Man kann sagen, die Kleine Eiszeit schlägt sich vor allem in deutlich kälteren Wintern und Frühjahren nieder.“
„Zusammenfassend kann man sagen, dass drei Antriebsfaktoren für das Klimaregime der Kleinen Eiszeit in der nördlichen Hemisphäre verantwortlich waren:
1. eine Abschwächung der Sonneneinstrahlung ....
2. Einbrüche der Sonnenaktivität ....
3. eine ungewöhnliche Häufung starker Vulkanausbrüche.
Längere nasse Phasen bei der Aussaat im Herbst reduzierten den Stickstoffgehalt der Böden und verringerten in der Regel die Saatfläche. Kalte Perioden im März und April im folgenden Jahr (nach der Aussaat) verringerten den Umfang der Getreideernte sowie der Molkereiproduktion.
Als Reaktion auf biophysikalische Auswirkungen des Klimawandels der Kleinen Eiszeit lässt sich die Verschiebung von Anbaugrenzen für bestimmte Nutzpflanzen fassen.“

Schon vor der klimatischen Ungunstphase ab Mitte des 17. Jh. war in der Alpenregion ein Punkt erreicht, an dem eine Erweiterung der Ackerflächen durch Rodungen nicht mehr möglich war. Eine Vielzahl von Urkunden aus jener Zeit belegen, dass mit der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche sorgsam umgegangen werden musste.  Durch verschiedene Verordnungen war die Viehweide (Weideordnung), die Nutzung der Almen (Alpordnung), die Bewässerung (Waalordnung) und das Holzschlagen (Holzordnung) sehr genau geregelt, und es blieb nicht aus, dass es auch  viele Verstöße dagegen gab [14, 16, 17, 18]. Die Tallagen litten verstärkt unter Überschwemmungen, Lawinen und Muren. Aus dem Boden war damals einfach nicht mehr herauszuholen, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren.

Die Zeit der ersten Auswanderungsperiode (1650 bis 1700) fällt eindeutig in eine Phase kalter Temperaturen zu allen Jahreszeiten und somit zu einer erheblichen Reduzierung des Ernteertrags. Die landwirtschaftlichen Anbaubedingungen verschlechterten sich nicht nur aufgrund der verkürzten Sommer und der dadurch verursachten geringeren Erträge. Aufgrund der sinkenden klimatischen Schneegrenze konnten auch höher gelegene Flächen nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden. Die Temperaturen der Jahres-, Sommer- und Wintermittel lagen Ende des 17. Jahrhunderts um 0,6 °C bis 0,8 °C unter dem langjährigen Mittel von 1851 bis 1950 [19]. Die schnee- und eisfreie Periode verkürzte sich, und die Sommer waren regnerisch und kühl [20]. Die Korrelation zwischen den Temperaturveränderungen Ende des 17. Jahrhunderts und dem langjährigen Mittel einerseits und den agrarwirtschaftlichen Gegebenheiten andererseits ergibt einen Verlust des Anbaugebietes von 100 Höhenmetern. Dabei ist zu betonen, dass insbesondere die Flächen der hochmontanen und subalpinen Höhenstufe betroffen waren, die früher zum Getreideanbau genutzt wurden. Durch den Flächenverlust in einer Höhe von rund 1800 m konkurrierten Siedlungen, Weiden, Wald und Getreideanbau um die spärlichen Flächen im Talboden. Verstärkend kam die Bedrohung und der Flächenverlust durch erhöhte Schwemmfächeraktivitäten, Felsstürze und Murenabgängen hinzu.

Die Bevölkerung lebte hauptsächlich von Getreide. Der Kartoffelanbau begann erst viel später, z. B. 1772  im Tannheimer Tal [12]. Die Not war groß. Ein Bittgesuch [16] von 1663 zur Genehmigung des Gemspirschens im Tannheimer Tal enthält: „Die im rauhen Gebirge lebenden Bittsteller leben nur von Gerste und Hafer, welche nicht immer ausreifen und durch Hochwetter bedroht sind.“ In der Geschichte von Bern [21] heißt es: „1692 - große Hungersnot in der ganzen Schweiz“.

Jäger, Georg beschreibt in seinem Buch "Fernerluft und Kaaswasser - Hartes Leben auf den Tiroler Almen" [24] in vielen Beispielen, wie es in der "Kleinen Eiszeit" durch die Klimaverschlechterung zur Ertragsminderung, zur Überweidung und Zerstörung der schützenden Vegetationsdecke, zu verkürzten Almsommern, vorzeitigen Almabfahrten, Hungersnot und vielen Leiden für die Bevölkerung kam:
Dazu ein Zitat von Seite 14:
"Gerade das Herabdringen der Ferner oder Keese in den tiefer gelegenen Siedlungs- und Wirtschaftsraum, in ein Gebiet, das über Jahrhunderte hinweg ertragreiches und fruchtbares Kulturland war, gehörte für die Alm- und Bergbauern während der "Kleinen Eiszeit" (1560 - 1850) zum Dämonisch-Unfassbaren."

Weitere Auszüge aus dem Buch:
S. 16: "Die Jahre von 1560 bis 1573, von 1585 bis 1615 und von 1676 bis 1697 sowie von 1755 bis 1776 waren ausgesprochen kalte Phasen."
S. 23: "... in den anderen "Jahren ohne Sommer" wie etwa 1675 und 1818 ...". "Der August 1675 war vergleichsweise noch kälter als jener von 1816. Die höher gelegenen Almweiden blieben damals den ganzen Sommer unter den Schneemassen begraben". "Auch die Zeit zwischen 1688 und 1699 war wieder eine frostige und somit für die Landwirtschaft ungünstige Periode."
S. 33: "Vor allem wegen der ungünstigen klimatischen Verhältnisse erfolgte damals im Laufe des 17. Jahrhunderts ein Rückgang der oberhalb der Baumgrenze in der alpinen Mattenstufe betriebenen Almwirtschaft /"Hochalmen"), während in den tieferen Lagen die Wälder für neue Almgebiete ("Waldalmen") gerodet wurden". ... "Neben der Fruchtbarkeit der Almböden nahm auch die Gesamtfläche der bestoßenen Weidegründe ab."
S. 48: 1680er-Ausbruch des Rofener Eisstausees.
S. 53: "Als extreme Lawinenmaxima gelten die Jahre 1689, 1720 und 1951."
S. 54: "Von Ende der 1670er-Jahre bis 1701 standen die Winter häufig unter dem Einfluss polarer Luftmassen und waren durchschnittlich fast um zwei Grad kälter als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts."

In einem weiteren Buch [27] zur Agrar- und Klimageschichte von Tirol liefert Georg Jäger ergänzende Fakten zur schwierigen Situation, z. B.:

S. 31: "Weitere markante Kältehöhepunkte waren, wenn man von 1460 absieht, jene um 1640, 1680-1710 und 1840."  "... durch die neuzeitliche Klimaverschlechterung hervorgerufene Verkürzung der Vegetationszeit im Bergland um ein bis zwei Monate."

S. 39: "Gerade in der Zeit zwischen 1688 und 1700 wird immer wieder von Nahrungsmangel berichtet. Der Missernte, welche im Jahr 1692 entstand, und der großen Teuerung, welche im Jahre 1693 eintrat, folgte 1694 ein neues Unglück, nämlich eine ansteckende Seuche.  ...  Diese längere, äußerst frostige und somit für die Landwirtschaft ungünstige Periode im 17. Jahrhundert markierte den Tiefpunkt der > Kleinen Eiszeit < ".

S. 40: "Das besonders >verrückte < Wettergeschehen zwischen 1644 und 1670: schwere Stürme, kalte Sommer und früher Schnee".

S. 161: "Während der 1690er-Jahre strömten immer wieder kalte polare Luftmassen in den Alpenraum, was teilweise auch für die Landwirtschaft verheerende Folgen mit sich brachte."

S. 179: "Die drei großen Hungersnöte von 1527-1531, 1594-1597 und 1659-1662 waren für die frühe Neuzeit besonders verheerend."

S. 183: "Infolge der klimabedingten Teuerungen und Hungersnöte verließen im Herbst 1628 und im Frühjahr 1629 zahlreiche Bewohner aus dem Oberinntal ... ihre Heimat, um in 'Österreich' (Niederösterreich) bessere Lebensbedingungen zu finden."

S. 264: "Von 1690 bis 1710 waren die Winter überhaupt die härtesten und strengsten der "Kleinen Esizeit", was sich bevölkerungsmäßig in einer sprunghaften Erhöhung der Todesfälle niederschlug."

 S. 267: "Eine Wetterchronik beschreibt auch die damaligen ungünstigen Klimaverhältnisse am Gardasee: Der Winter 1708 bis 1709 war sehr kalt, wobei zu Beginn des Jahres 1709 Tiefstwerte von oft unter 20 Grad Celsius erreicht wurden. Im Jänner und Februar war der Gardasee ganz zugefroren."

S. 401: "Nicht weniger als 80 Prozent des Ertrages der Landwirtschaft hängen vom Wetter ab."

S. 407: "Von 1664 bis 1693 wütete der > Weiße Tod < im Außenfern, worüber u. a. die Lechtaler Chronik berichtet."

S. 408: "Ausgesprochen große Lawinenschäden gab es Anfang Februar 1689 im Montafon.  ... In der Folgezeit wurde im Montafon das Jahr 1689 als das > entsetzlichste < bezeichnet."

S. 413: "Mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit ließ die Klimaverschlechterung der > Kleinen Eiszeit < die Alpengletscher vorrücken. Dabei wurden Almflächen zerstört und mancherorts brachen Gletscherstauseen aus."

Die Allgäuer Chronik [30] enthält für Schwaben Informationen, die das Gesamtbild ergänzen:

Seite 303 - 305:

1684:

"In Schwaben schwerster Winter seit 1503. Viele Bäume zerspringen vor Kälte mit großem Geknall. Der Bodensee friert völlig zu."

1685:

"Wegen des nassen und kalten Wetters verfault im Sommer in Schwaben das Heu auf den Feldern; an Weihnachten dagegen fangen die Bäume an zu blühen."

"Im August fällt im Allgäu tiefer Schnee; in Kempten bleibt er dreißig Zentimeter hoch liegen."

Seite 313:

1694:

"Gegen Jahresende friert der Bodensee zu."

R. v. Klebelsberg zeigt 1947 in seinem Buch "Die Obergrenze der Dauersiedlung in Nordtirol" [26] wie intensiv die Besiedlung bis in hohe Lagen erfolgt. Dabei stellt er Seite 7 fest: "Klimatisch hängt die obere Siedlungsgrenze wie alle anderen biologischen und kulturellen Höhengrenzen von der Lage der Schneegrenze als klimatischer Höhengrenze erster Ordnung ab."  Seite 22/23 stellt er fest, dass die Rofenhöfe im Ötztal mit 2014 m die höchstgelegene Dauersiedlung im ganzen deutschen Sprachgebiet sind. Im Alpenraum liegen nur noch die Weiler Juf (2133 m) in der Gemeinde Avers bei Thusis (Graubünden, rätoromanisch) und das Dörfchen Trepalle (2088 m) in der italienischen (Bormio) Valle Livigno unweit der Bündner Grenze höher. Beispielhaft geht die Dauersiedlung 1947 im Stanzertal bis 1423 m, im Paznauntal bis 1660 m und im Pitztal bis 1734 m. Wieweit sich die Obergrenze der Dauersiedlung in den letzten Jahrhunderten veränderte, ist in der Schrift leider nicht aufgezeigt.

Ronald D. Gerste schreibt 2015 in seinem Buch [33] Seite 104:
"In den Alpen drangen während der Kleinen Eiszeit zahlreiche Gletscher weiter ins Tal als jemals zuvor seit der >>richtigen<< Eiszeit vor mehr als 12000 Jahren. Die jährliche Zeitspanne, in der Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte wuchsen, war kurz, Missernten und daraus resultierende Hungersnöte häufig. Die Schweiz war nicht zuletzt aufgrund dieses Nachteils im 17. Jahrhundert - welch Unterschied zur Gegenwart - ein armes Land. Die vordrängenden Gletscher reduzierten die Anbaufläche und verdrängten Bauernhöfe und vereinzelt gar ganze Siedlungen. Für Künstler hingegen war das Naturschauspiel von an die Grenzen einer Gemeinde stoßenden Gletschern ein faszinierendes Motiv. Matthäus Merians Kupferstich vom bis an den Dorfrand vorstoßenden Unteren Grindelwaldgletscher von 1642 zeigt auch ein weiteres Merkmal dieses beeindruckenden Naturphänomens: Touristen, die Gletscher wie Gemeinde mit Schaudern betrachten. Die Erforschung des Rückgangs - oder Vordringens - von alpinen Gletschern liefert Daten, die eine wesentliche Säule für die Rekonstruktion vergangener Klimaverhältnisse darstellen.  ... "

Gerste [33] widmet ein ganzes Kapital dem Januar 1709 >>The coldest winter in memory ...<<  und schreibt ua. "Der Winter von 1709 war ein extremes Ereignis innerhalb der an Jahren mit Tiefsttemperaturen so reichen Kleinen Eiszeit. Für diese Wetterepisode werden die extrem geringe Sonnenfleckenaktivität zu dieser Zeit, dem so genannten Maunder-Minimum, und die Vulkaneruptionen in den Jahren 1707 und 1708 (darunter der Fujijama in Japan und Santorin im Mittelmeer) verantwortlich gemacht.  ... Wie dieses zog auch der Winter von 1709 Lebensmittelknappheit und Hungersnot sowie in deren Folgen soziale Unruhen nach sich. Flüchtlinge aus verelendeten ländlichen Regionen drängten in die Städte, ...".
Gerste schreibt, dass auch der Bodensee größtenteils zugefroren war.

Gletscher gelten als eindeutige und empfindliche Anzeiger klimatischer Veränderungen. Dies ist in [28] ausführlich beschrieben. Für den Langenferner im Martelltal ergibt sich aus der Rekonstruktion der Gletscherstände, dass die Gletscherzunge um 1680 auf einer Höhe von 2320 m endete. Im Jahr 2002 endete die Zunge auf einer Höhe von 2720 m. Einem Rückzug des Gletschers nach 1680 (ohne Berücksichtigung von späteren Vorstößen, besonders um 1850) um rund 400 Höhenmeter steht die Frage gegenüber, wie stark und schnell der Gletschervorstoß vor 1680 erfolgte.

Modellrechnungen für einige repräsentative Täler mit hoher Anzahl von Auswanderern, z. B. Stanzertal, Paznauntal und Pitztal, deuten darauf hin, dass sich die Anbaufläche für Getreide um 20 % bis 30 % verringerte. Der Klimawandel vergrößerte aber nicht nur die Gletscher, sondern verschlechterte das gesamte Klima in den Tälern. Die kühlen und feuchten Sommer führten zu geringerem Wachstum und erhöhter Verderblichkeit des Getreides, so dass sich die Ernteerträge pro Hektar deutlich reduzierten. Auch hier ist von Ernteeinbußen von 10 % bis 30 % im Vergleich zur ersten Hälfte des 17. Jh. zu rechnen. Das bedeutet, dass sich die Ernteerträge (in Bezug auf die Gesamtmenge etwa um 1640) bis zur Hälfte reduzierten und damit die Bevölkerung nicht mehr zu ernähren war.

Heinz R. Wittner [1] schreibt für die Pfalz: „Ab 1707 gab es mehrere Jahre hintereinander mit schlechter Witterung und in Folge dessen kam es zu Missernten und einer Hungerkatastrophe. Die schlimmsten Katastrophenjahre waren 1709/10. Zusammen mit diesen Hungerjahren und den Kriegslasten setzte damals die erste große Auswanderungswelle nach Amerika ein. Bis zum Herbst 1709 waren bereits 13000 Pfälzer in England eingetroffen, um nach Amerika weiter zu wandern.“ Einschränkend muss festgestellt werden, dass der Begriff „Pfälzer“ sich dabei nicht nur auf die heutige geografische Pfalz, sondern auf die damaligen Territorien beiderseits von Ober- und Mittelrhein bezog [22]. Wenn jedoch eine solche Hungerkatastrophe im südwestdeutschen Raum - während noch laufender Wiederbesiedlung - schon solche Folgen hatte, lässt sich erahnen, welcher gewaltige Druck sich schon einige Jahrzehnte vorher durch den Klimawandel in den Alpenregionen aufbaute.

Vergleicht man nun die Zeiten stärker und schwächer werdender Auswanderungen mit der Klimaentwicklung, so kommt man zu folgenden Abhängigkeiten:

Die erste Auswanderungsperiode von 1650 bis 1700 mit einem Maximum um 1685 deckt sich relativ gut mit der Klimaverschlechterung, die mit dem größten Gletschervorstoß um 1680 ihr Maximum erreichte. Nach 1700 ist eine Entspannung der klimatischen Verhältnisse zu sehen, aber gleichzeitig erreicht die Zahl der Bewohner der Alpenregionen trotz der bereits im 17. Jh. erfolgten Auswanderung eine Größe, dass die Ernährung mit den begrenzten Flächen auch bei normalisierten Ernteerträgen (vergleichbar etwa mit 1640) nicht mehr möglich war. Die zweite Auswanderungsperiode mit einem Maximum um 1715/20 ist daher tatsächlich eine Folge der angewachsenen Bevölkerung.

Fazit

Die Klimaverschlechterung während des Zeitraumes der "Kleinen Eiszeit" von 1645 bis 1715 in Verbindung mit den größten Abkühlungen und einer maximalen Gletscherausdehnung um 1680 in Tirol, führte durch die dadurch erheblich tiefere Vegetationsgrenze zwangsläufig zu einer starken Reduzierung der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche in allen höher gelegenen Alpenregionen. Gleichzeitig führte die Abkühlung zu solchen Wetterverschlechterungen, dass sich auf den restlichen Anbauflächen die Ernteerträge ganz erheblich verringerten. Gerade die Kombination aus reduzierten Anbauflächen einerseits und wetterbedingt schlechteren Erträgen über einige Jahrzehnte andererseits führte zu zunehmenden wirtschaftlichen Problemen. Die Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung müssen seit etwa 1650 erheblich gewachsen sein. Nur die Auswanderung oder der zeitweise Broterwerb in der Fremde konnten eine Entlastung bringen. Nicht das Bevölkerungswachstum an sich, sondern die zunehmend schlechtere Ernährungssituation durch den Klimawandel in der neuzeitlichen Gletscherhochstandsperiode, verbreitet "Kleine Eiszeit" genannt, war die Triebkraft und Hauptursache für die Auswanderung aus dem Alpenraum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit ihrem Höhepunkt zwischen 1680 und 1690.

 

Quellen und Literatur

[1] Heinz R. Wittner: Schweizer (Einwanderer) in der Vorder- und Südpfalz, Ludwigshafen 2003.

[2] Nina Schneider: Die Wiederbesiedlung der sickingischen Herrschaft Landstuhl nach dem 30jährigen Krieg, Magisterarbeit Uni Mainz 1998.

[3]  Hermann Müller; Wendelin Petry: Denombrement der Herrschaft Landstuhl Anno 1681, in Pfälzisch-Rheinische Familienkunde, Heft 6, 2003.

[4] Walter Petto: Wanderungen aus Tirol und Vorarlberg in das Saarland, Saarbrücken 2000.

[5] Ernst Drumm, Die Einwanderung Tiroler Bauhandwerker  in das linke Rheingebiet 1660 - 1730,
 Zweibrücken 1950.

[6] Schweizer Einwanderer im Westrich 1650 – 1750, Zweibrücker Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung 1995

[7 Karl Diefenbacher; Hans Ulrich Pfister; Kurt H. Hotz: Schweizer Einwanderer in den Kraichgau nach dem Dreißigjährigen Krieg, Ladenburg 1983.

[8] Walter Petto: Die Einwanderung aus Tirol und Vorarlberg in die Saargegend,  Saarbrücken 1976.

[9] Roman Spiss: Saisonwanderer, Schwabenkinder und Landfahrer – Die gute alte Zeit im Stanzertal, Innsbruck 1993.

[10] Hermann Müller: Wanderungsgeschichte: Beitrag zur Einwanderung von Tirolern in die Westpfalz und in angrenzende Regionen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Internet:
 www.mueller-heppenheim.de/tiroler1.htm, 2007, mit fortlaufender Aktualisierung.

[11] Sighard Volp: Das Umstädter Pestbuch – Die große Pest 1634 – 1636, Groß-Umstadt 2005

 [12] Alfons Kleiner: Das Tannheimer Tal.  Steiger Verlag Innsbruck, 2. Auflage 1990.

[13] Rudolf Palme u. a.: Geschichte des Landes Tirol, Band 2 – Die Zeit von 1490 bis 1848, Bozen 1998.

[14] Sebastian Hölzl:, Die Gemeindearchive des Bezirkes Landeck, Tiroler Geschichtsquellen, Innsbruck 1997.

[15] Stefanie Müller: Gletscherstände und Klimawandel im Hinteren Martelltal, Südtirol. Dissertation Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2006.

[16] Sebastian Hölzl: Die Gemeindearchive des Bezirkes Reutte, Tiroler Geschichtsquellen, Innsbruck 1997.

[17] Sebastian Hölzl: Stadtarchiv und Museumsarchiv Imst, Tiroler Geschichtsquellen,  Innsbruck 1992.

[18] Sebastian Hölzl: Gemeindearchive Arzl im Pitztal und Längenfeld, Tiroler  Geschichtsquellen, Innsbruck 1986.

[19] Christian-Dietrich Schönwiese: Klimaänderungen, Berlin, 1995.

[20] Christian Pfister: Wetternachhersage – 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen, Bern 1999.

[21] Historisches Lexikon der Schweiz - Pest in der Schweiz. Internet: http://hls-dhs-dss.ch/m.php?lg=&article=D7980.php, 2011.

[22] Karl Scherer: „… ist in Pennsylvanien gezogen …“, in „300 Jahre Pfälzer in Amerika“,  Landau 1983.

[23]  Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit 1500 - 1900. WBG 2010.

[24]  Georg Jäger: Fernerluft und Kaaswasser - Hartes Leben auf den Tiroler Almen. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2008.
[25]  Roland Walck: Les batisseurs tyroliens en Alsace et en Lorraine sous l'Ancien  Régime. Octobre 2010. Selbstverlag.

[26] R. v. Klebelsberg: Die Obergrenze der Dauersiedlung in Nordtirol. Universitäts-Verlag Wagner, Innsbruck, 1947. 

[27] Georg Jäger: Schwarzer Himmel - Kalte Erde - Weißer Tod. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2010.

[28] Stefanie Müller: Geomorphologische Untersuchung zur spätglazialen und holozänen Gletscherentwicklung im Hinteren Martelltal, Südtirol (Italien). Magisterarbeit, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Brsg., 2003.

[29] Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas - Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung. dtv 2011.

[30] Alfred Weitnauer: Allgäuer Chronik - Daten und Ereignisse. Band II. Kempten 1971.

[31] Hermann Müller: Auswanderung aus Tirol in die Pfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648); Tiroler Heimatblätter, 88. Jahrgang, 2/2013, Seite 66 - 74.

[32] Markus Bauer (Hrsg.) unter Mitarbeit von Michael Barziniank, Eva-Maria Gawlik-Sutter und Hermann Müller: Von den Alpen in die Westpfalz. Kulturhistorischer Verein "Gericht Kübelberg" e.V., 2013.

[33] Ronald D. Gerste: Wie das Wetter Geschichte macht - Katastrophen und Klimawandel von der Antike bis heute. Verlag Klett-Cotta 2015.

Autoren:

Dr. Hermann Müller, Silvanerweg 7, 64646 Heppenheim;

Dr. Stefanie Fey,  Ernst-Moritz-Arndt-Straße 8,  64625 Bensheim-Auerbach

Wir freuen uns über jede Ergänzung und Verbesserung.

www.mueller-heppenheim.de

 

 Erstfassung 2011, ergänzt am 7. Januar 2016, zuletzt ergänzt am 21. Juli 2018 durch Dr. Hermann Müller

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